Mit Sigmund Freuds bahnbrechenden Arbeiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts trat das Unterbewusstsein (oder "das Unbewusste") aus seinem Schattendasein. Zwar sind einige seiner Thesen inzwischen justiert bzw. korrigiert worden, beim Anteil des Unbewussten an unseren bewussten Entscheidungen war er jedoch sogar noch zu vorsichtig. Er vermutete ein Gewicht von 3/4 bis 4/5, also 75%-80%, was damals schon ein Skandal war und zunächst auf breite Ablehnung stieß (das ist wichtig daher kommen wir gleich nochmal darauf zurück). Auch wenn heute die besten interdisziplinär arbeitenden Experten (Psychologen, Mediziner, Biologen) große Schwierigkeiten damit haben, das Unterbewusstsein präzise zu definieren, so ist man sich doch weitgehend einig, dass man diese Prozentzahl wohl oberhalb der 95 ansetzen muss (Tendenz steigend). Einer der führenden Neurobiologen, Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth, hält sogar 99% für wahrscheinlich und diskutiert höchstens noch über die Anzahl der 9en nach dem Komma.
Ich kann nicht genug betonen, wie wichtig es ist, sich mit diesen Erkenntnissen der Wissenschaft sehr bewusst (!) auseinanderzusetzen. Die allgemeine Ablehnung vor über 100 Jahren hat einerseits mit dem Stolz auf die aus damaliger Sicht moderne Zivilisation und den Fortschritt der Technik zu tun. Man ging davon aus, gerade den Triumph des Verstandes über das Animalische zu erleben. Es handelte sich dabei also um eine eher gesellschaftliche, kulturelle und politische Abwehrhaltung. Dazu gesellte sich aber - und daran hat sich auch in unserer postmodernen, aufgeklärten Zeit nicht wirklich viel geändert - die unbewusst (!) vorhandene Angst vor Kontrollverlust. Vordergründig könnte man sagen, das Ego will nicht akzeptieren, dass es nicht der Chef im Ring ist. Tatsächlich steckt aber noch mehr dahinter, und hier ist nun wieder geistige Beweglichkeit gefordert. Eine andere Sichtweise wäre nämlich (plastisch formuliert): Das Unbewusste will nicht entdeckt werden. Es fühlt sich durch die o.g. Erkenntnisse bedroht, und da es an den Schalthebeln der Macht sitzt, lässt es diesen Gedanken nicht viel Raum. Das ist in Etwa vergleichbar mit dem heimtückischen Mechanismus des HI-Virus: es greift ausgerechnet die Zellen des Immunsystems an, die für seine Entschlüsselung verantwortlich wären.
Das klingt ein wenig nach Voodoo; tatsächlich steckt natürlich kein diabolischer Plan dahinter - weder bei HIV noch beim Unterbewusstsein, sondern es hat sich im Laufe der Evolution einfach als nützlich erwiesen. Trotzdem möchte ich noch etwas in diesem Gedankenmodell bleiben, denn es ist im Gegenzug ebenso nützlich, um die Evolution zu "überlisten".
Ich hatte ja bereits angekündigt, dass wir uns vom Begriff "Unterbewusstsein" verabschieden. Es spielen dabei nämlich viele Vorgänge eine Rolle, die für unsere Betrachtungen irrelevant sind, z.B. alles, was im Körper stattfindet wie Reizverarbeitung, Muskelkontrolle und weitere. Interessanter ist der Teil, der verantwortlich ist für teilweise irrationale Denkmuster, Verhaltensweisen und Ängste, die uns so vertraut und normal vorkommen, weil wir schon so lange mit Ihnen leben. Wie lange, darüber gibt es mittlerweile Gewissheit: das Unterbewusstsein wird in den ersten 5 Lebensjahren angelegt, mit absteigender Intensität - also ganz besonders in Jahr 1 und 2 (genauer gesagt auch schon im Mutterleib), danach immer weniger und mit spätestens 6 Jahren sind die neuronalen Verschaltungen im Großen und Ganzen verfestigt. Tatsächlich tut sich auf biologischer Ebene noch so einiges (z.B. werden bis zu 50% der ungenutzten Verschaltungen wieder abgebaut), aber das spielt für unser Thema keine Rolle und würde hier zu weit führen.
Wenn wir nun also festgestellt haben, dass unser Unterbewusstsein zum überwiegenden Teil in den ersten 5-6 Jahren entsteht, und wir außerdem festgestellt haben, dass es bis zu 99 Prozent unserer Entscheidungen beeinflusst - dann bedeutet das, dass wir bei fast allem was wir sagen, tun und denken, bei jeder kleinen und großen Entscheidung, von einem - na sagen wir im Durschnitt 4-jährigen Rotzlöffel oder Prinzesschen beraten werden. Wie absurd das eigentlich ist, wird deutlich, wenn du dir eine passende Szene vor deinem geistigen Auge ausmalst.
Szenenwechsel:
Du wirst womöglich diese ungewohnte Darstellung der Realität belächeln und nicht wirklich ernst nehmen. Das genau ist die Stelle, an der es sich entscheidet: willst du weiter an der Oberfläche bleiben und glauben, dass du die Kontrolle hast? Oder gehst du tiefer in den Kaninchenbau?
Die meisten Menschen haben keine detaillierte Erinnerung an ihre ersten Lebensjahre. Es reicht aber eigentlich ein wenig Phantasie und gesunder Menschenverstand, um sich zumindest ansatzweise in die Gefühlswelt eines Kleinkindes zu versetzen. Ein Säugling ist zu 100% bedingungslos auf die Lebenserhaltung durch andere angewiesen (in der Regel die Eltern) und kann die Außenwelt nach den Monaten der totalen Geborgenheit im Mutterleib als sehr spannend aber auch als potentiell extrem bedrohlich empfinden. Hunger, Blähungen, ein kalter Luftzug, die Mutter verlässt den Raum - in den ersten Lebensmonaten gibt es endlose Möglichkeiten, in Panik zu geraten und existenzielle Ängste zu entwickeln. Man muss sich klar machen, dass das Kind ja gar nicht einschätzen kann, wann die aktuell als kritisch empfundene Situation sich wieder entspannt. Z.B. ob die Mutter jemals zurückkehren wird, ist nach einer relativ kurzen Zeitspanne von 2 Minuten (mit Maßstäben eines Erwachsenen gemessen) in der Realität des Kleinkindes eine Frage von Leben und Tod. Die Eltern auf der anderen Seite können gar nicht einschätzen, was viele scheinbar belanglose Situationen im Hormonhaushalt ihres Kindes anstellen. Sie erinnern sich nicht an ihre früheste Kindheit und sind meistens auch selbst durch die neue Herausforderung gestresst. So sehr man sich ein Kind gewünscht haben mag, ist es doch nicht immer einfach, so extrem gebraucht zu werden und die eigenen Bedürfnisse weitestgehend unterdrücken zu müssen.
Daher MUSS früher oder später für Eltern der Moment kommen, in dem sie dem frischen Nachwuchs nicht voll und ganz gerecht werden. Wie traumatisch eine wenn auch kurze Vernachlässigung oder sogar leichte Aggression vom Kind empfunden wird, ist sehr unterschiedlich und auch schwer zu messen. Es ist aber an dieser Stelle außerordentlich wichtig, dass du die Bedeutung dieser frühen Weichenstellung nicht unterschätzt. Um es nochmal zu unterstreichen, erinnere ich an das berühmt/berüchtigte Experiment, das der Legende nach Kaiser Friedrich II. im 13. Jahrhundert durchgeführt hat. Demzufolge liess er 20 Säuglinge in einer isolierten Station nur mit dem Lebensnotwendigen versorgen, aber ohne jedwede liebevolle Zuwendung und ohne dass mit ihnen gesprochen werden durfte - alle starben noch vor ihrem ersten Geburtstag! Zwar ist die einzige Quelle dieser grausamen Geschichte (die Chronik des Salimbene von Parma) nicht auf ihre Glaubwürdigkeit überprüfbar, aber die Ergebnisse der seriösen Forschung (s. Stichwort Deprivation) zeigen in die gleiche Richtung.
Dazu kommen Situationen, die bei vermutlich allen Eltern tendenziell aggressiv wirkende Reflex-Reaktionen hervorrufen. Jeder dürfte bereits die folgende Szene in dieser oder ähnlicher Form beobachtet haben.
Zwar hat sie dabei prinzipiell gute Absichten: eine Wiederholung dieser Situation mit dann vielleicht tragischem Ausgang unter allen Umständen zu verhindern. Aber auch hier muss man sich klar machen, was dieses Verhalten im Kind auslöst. Es hat aus seiner Sicht nichts falsch gemacht, denn seine Umgebung zu erkunden ist für ein kleines Kind das Normalste der Welt. Die vom Schreck erzeugte Überreaktion der Mutter wirkt für das Kind zusätzlich noch wie unter einem Vergrößerungsglas, da seine zarte Seele völlig auf die Mutter fixiert ist, und sich nichts sehnlicher wünscht, als in der Arm genommen und geliebt zu werden. Es ist nicht übertrieben, eine solche Situation als für das Kind traumatisch zu bezeichnen. Was davon im Unterbewusstsein zurückbleibt, ist ein Gefühl von "ich bin nicht richtig" - und somit ein beschädigter Selbstwert.
Es besteht also kein Zweifel daran, dass die Psyche des Menschen in der Frühphase seines Lebens sehr empfindlich auf Außenreize bzw. fehlende Außenreize reagiert, aber gleichzeitig über instinktive Prozesse in der Lage ist, Überlebensstrategien zu entwickeln (z.B. Verdrängung), was eine spätere Auseinandersetzung oder Aufarbeitung massiv erschwert.
Dieses Zwischen-Fazit soll uns im Moment reichen, um das Fundament für die nächsten Schritte zu legen. Es gibt jede Menge Publikationen zur Vertiefung des Themas, allerdings haben sie alle Eines gemeinsam: was im Kopf eines Menschen wirklich detailliert passiert, bleibt uns (noch) verschlossen. Aber so wie wir auch nicht wirklich wissen, ob Elektronen in elliptischen Bahnen um den Atomkern "fliegen", können wir auch hier mit einem Modell arbeiten, das unsere Verhaltensweisen erklärt und die Tür für eine Veränderung öffnet.
Zur Erinnerung: es geht um jenen Teil des Unterbewusstseins, der dafür sorgt, dass wir oft
Die Liste ist bei weitem nicht vollständig, aber du weißt sicher intuitiv, was gemeint ist. Um nun dafür ein Modell zu zeichnen, leihen wir uns nochmal einige Zutaten aus dem Genre Voodoo. Oder Science-Fiction... was dir lieber ist.
Auch wenn du dich nicht mit dieser Metapher anfreunden kannst - sie ermöglicht dir einen ganz wichtigen Schritt: die gedankliche Trennung von deinen unbewussten Ängsten. Denn sie sind nicht du...es handelt sich um konditionierte Denkmuster, die so komplex deine Persönlichkeit durchdringen, dass sie quasi ein Eigenleben entwickelt haben. Voodoo-Dämon, Alien-Parasit, dein kleines Ich oder das innere Kind: suche dir eine symbolische Bezeichnung aus und fange an, dich davon zu emanzipieren. Versuche so oft wie möglich, dein alltägliches Verhalten zu beobachten und denke daran, dass du weder dich noch das kleine unsichere Wesen in dir schonen musst: deine Integrität ist nicht in Gefahr.
Puh, das war starker Tobak - und sollte erst einmal etwas sacken. Zeit für eine Atempause - aber vorher noch ein kleiner Exkurs zum Thema Selbstwert.